VORWORT
"Der Sturm wird immer stärker!"
"Das macht nichts. Ich auch!"
Im Kinderbuch Pippi Langstrumpf gibt es eine Stelle, in der die beiden vorsichtig-ängstlichen Freunde von Pippi Tommi und Annika besorgt zum Himmel blicken um festzustellen, dass der Sturm immer stärker wird. Pippi reagiert mit „Das macht nichts. Ich auch.“ Diese Antwort ist typisch für
Pippi: Sie ist voller Selbstsicherheit, Selbstvertrauen und Selbstbewusstsein, ihre Selbstwirksamkeit ist ausgeprägt. Der Begriff der Selbstwirksamkeit aus der sozial-kognitiven Lerntheorie von Albert Bandura ist in den letzten Jahren zu einem pädagogischen Grundbegriff geworden, aus dem
sich eindeutige Hinweise ableiten lassen, wie Kinder und Jugendliche in ihrem Lernen unterstützt werden können. Bandura fasst zusammen, was Selbstwirksamkeit so bedeutend macht: «Motivation, Gefühle und Handlungen von Menschen resultieren in stärkerem Masse daraus, woran
sie glauben oder wovon sie überzeugt sind, und weniger daraus, was objektiv der Fall ist.»
Entscheidend ist also der Glaube an die eigenen Fähigkeiten. Selbstwirksamkeit ist die subjektive Gewissheit, neue oder schwierige Anforderungssituationen aufgrund eigener Kompetenz bewältigen zu können. Pippi ist felsenfest davon überzeugt, dass ihr der Sturm nichts anhaben kann. Klar ist, dass nicht alle Kinder und Jugendlichen diesen ausgeprägten Glauben an die eigenen Fähigkeiten haben. Zur Stärkung von Selbstwirksamkeit hat der Psychologe Franz Petermann das Verfahren «Das Leben im Rückspiegel» vorgeschlagen. Indem Kinder und Jugendliche auf positiv verlaufene Erfahrungen und Erlebnisse zurückblicken und sich damit auseinandersetzen, können sie Vertrauen entwickeln, vor ihnen liegende Situationen bewältigen zu können.
Das Buch von Anita Rebronja setzt genau an dieser Stelle an: Durch einen Rückblick auf schwierige Situationen, die in der Vergangenheit erfolgreich bewältigt wurden und durch das Ermöglichen von Stolz aufgrund von «Trotzdem-Erfolgen», von Erfolgen, die nicht unbedingt zu
erwarten waren. Es gelingt der Autorin mit ihren wunderbar-feinfühligen Gedichten und mit ihren einfühlsamen Reflexionsvorschlägen, dass Kinder und ihre Bezugspersonen positive und negative Erfahrungen und Erlebnisse besser verstehen können. Und so lernen, sich selbst besser erkennen
und verstehen zu können.
Sie kennen sicher das Sprichwort „Durch Erfahrung wird man klug“. Das stimmt nicht. Um klug zu werden, genügt das Sammeln von Erfahrungen nicht. Es braucht etwas Entscheidendes, damit Erfahrungen klug und klüger machen können. Es braucht ein Nachdenken darüber, wieso eine
Erfahrung negativ in Erinnerung bleibt, und das Verhalten prägt. Auch an dieser Stelle setzt das Buch von Anita Rebronja an: Sie will mit ihren klugen Anregungen erreichen, dass die Kinder und ihre Bezugspersonen nachdenken. Dieses Nachdenken oder Reflektieren kann dazu führen, dass
im Nachherein besser verstanden wird, was warum und auf diese Weise wahrgenommen wurde. Und zu verstehen lernen, dass es auch anders wahrgenommen werden kann. Das Sprichwort müsste heissen: Durch reflektierte Erfahrungen kann man klüger werden. Dazu braucht es Zeit und
eine Entschleunigung. Die Schriftstellerin Elif Shafak hat vor kurzem in einem Interview gesagt: „Wir plaudern nach, wir wiederholen. Was wir stattdessen brauchen, ist eine Entschleunigung. Zeit, um nachzudenken, zu hinterfragen, zu verarbeiten.“
Ich wünsche Ihnen liebe Leserinnen und Leser und Ihren Kindern unvergessliche Lern- und Reflexionsprozesse. Ich wünsche Ihnen Zeit, um mit Hilfe dieses Buches nachzudenken, zu hinterfragen, zu verarbeiten. Ich bin mir sicher, dass dieses mit persönlichen Bemerkungen ergänzte Buch für Sie zu einem faszinierenden Begleiter durch bisher ganz oder teilweise verborgene Erlebnis- und Erfahrungswelten werden wird. Und eine spannende Lektüre Jahre später.
Im Juni 2021
Prof. Dr. Hans Berner
Langjähriger Dozent an der Pädagogischen
Hochschule Zürich, Bildungsexperte und Autor